Sonntag, 26. August 2012

Ethikunterricht oder Religionsunterricht?


Ethik oder Religion?
Zur Debatte um die Einführung eines alternativen Ethikunterrichts an Österreichs Schulen

Bundesministerin Claudia Schmied hat angekündigt (25. August 2012), Konzepte für einen Ethik-Unterricht an Schulen bis Jahresende vorzulegen. Einerseits – so Schmied – soll an der bestehenden Regelung des Religionsunterrichtes nichts verändert werden, andererseits peilt das Ministerium in Einklang mit den Schulbehörden die Installierung des Pflichtfaches Ethik an. Wenn Schmied meint, sie wolle kein „Entweder-Oder“ – entweder Ethik oder Religion als Wahlmöglichkeit für Schüler – so ist dies von der Praxis her wohl kaum durchführbar. Soll damit Ethik als Pflichtfach für alle eingeführt werden und für andere noch zusätzlich Religionsunterricht? Dafür dürfte es in den Schulen wohl keine zusätzlichen Werteinheiten geben. Wird also nicht doch mit dem Ethikunterricht als Pflichtfach der Religionsunterricht de facto mehr und mehr ausgehebelt? Was bedeutet es, wenn Religion oder Ethik als Entscheidungsalternative vorgelegt wird?
Welches Bild von Religion und welches Bild von Ethik wird einem Schüler oder einer Schülerin vermittelt, wenn er oder sie zu Beginn eines Unterrichtsjahres vor die Wahl gestellt wird – und praktisch wird es so ablaufen – Ethik oder Religion? Eine entsprechende Schülerentscheidung muss dann sehr schnell stattfinden. Nichtkonfessionelle Schüler bzw. solche, deren konfessioneller Unterricht mangels Teilnehmerzahl nicht stattfindet, haben dann ohnehin nur mehr eine Wahlmöglichkeit, nämlich den Ethikunterricht. Auf jeden Fall wird durch die Schulanfangsfrage „Religion oder Ethik?“ implizit ein sehr verhängnisvolles und falsches Entweder-Oder kolportiert.
            Dass Ethik ohne Religion nicht unproblematisch ist, wird kaum bedacht. Eine religionslose Ethik kann in gefährliche Abgründe geraten. Um gleich das abscheulichste Beispiel zu nennen: Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki wurde mit ethischen Argumenten legitimiert. Jeder Krieg – selbst Angriffskriege – wurde von Kriegsherren mit ethischen Hinweisen  begonnen oder geführt. Es sind die Religionen, die demgegenüber einfordern: „Du sollst nicht töten!“ Die strengen Asylgesetze wurden von den österreichischen Bundesministern ethisch argumentiert. Jede Religion mahnt dagegen die besondere Sorge für Flüchtlinge ein. Politiker und Wirtschaftstreibende, die auf Wachstumsstrategien setzen, argumentieren ethisch, sie würden Arbeitsplätze sichern, sie würden Steuern bringen usw. Jede Religion hingegen baut auf der Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung auf. Auch wenn sich ethische Forderungen mit religiösen Geboten decken, fehlt ihnen etwas Wesentliches, was die Religionen einer „reinen“ Ethik voraus haben. Religiöse Verpflichtungen binden die Menschen unbedingt. Die Bindung an Göttliches verpflichtet, wie es abstrakte ethische Normen nie tun können. Mehr noch, das immer bereits vorausgehende Geschenk der Gottesbegegnung ermöglicht erst ein ungezwungenes ethisches Handeln, das auch gewaltfreie Gelassenheit zulässt. Diese Bindung der Ethik an Religion bzw. eine religiöse Ethik hat gerade in der Zeit postmoderner Beliebigkeiten jenes Potenzial, das der Verelendung, dem Hunger, der Zerstörung der Umwelt, den Kriegen und der Aufrüstung die Stirn bietet. Ein letztes Beispiel: Die chinesische Staatsführung bemüht ständig ethische Argumente, mit denen die andauernde Besatzung und Menschenrechtsverletzung gegenüber dem tibetischen Volk begründet werden, während der gewaltfreie Kampf des Dalai Lama für die Autonomie Tibets zutiefst religiös-ethisch ist.
            Genauso freilich wäre es fatal, wenn durch die freie Wahl „Religion oder Ethik“ zumindest indirekt der Eindruck entstünde, als könnte Religion ohne Ethik auskommen. Religiöses Handeln ist immer zugleich ethisches Handeln. Im Tun der Menschen und ihrer Organisationen offenbart sich erst die Religion. Der Glaube manifestiert sich in der Praxis. Wo versucht wird, der Religion die Ethik zu entziehen, entstehen die religiösen Fundamentalismen: ein religiöser Fanatismus ohne die aufgeklärten ethischen Postulate Kant‘scher Prägungen, wie ihn alle Religionen kennen. Ein Religionsunterricht ohne Ethik wäre das, was der Pius-Bruderschaft mit ihrer voraufklärerischen Fundamentalmoral vorschwebt. Ein Religionsunterricht ohne Ethik wäre blutentleert – genauso wie ein Ethikunterricht ohne Religion. Das spüren die Schüler und Schülerinnen intuitiv. Ich könnte sie verstehen, wenn sie sich für einen Ethikunterricht entscheiden würden, weil sie spontan ebendort Antworten für ihre praktischen Lebensfragen finden könnten. Atheistisch motivierte Befürworter eines Ethikunterrichts, deren Anliegen eine religionslose Ethik ist, treffen sich in der Frage des Ethikunterrichts mit Kräften aus dem katholischen Bereich, denen es darum geht, den Religionsunterricht wieder mehr zu einem Katechismusunterricht umzugestalten. Dadurch werden vermeintliche Klarheiten geschaffen: Religiöse Schüler in den Religionsunterricht, sogenannte nicht-religiöse Schüler in den Ethikunterricht.
            Ein zusätzliches Argument wird ebenfalls kaum mitbedacht. Ethische Themen sind im Schulalltag aus den anderen Fächern nicht wegzudenken. Im Gegenteil: Ob in Geographie und Wirtschaftskunde die Fragen der weltweiten Gerechtigkeit, die Ursachen des Hungers, der Klimawandel etc. erwogen werden oder in Biologie über Tierschutz, Artensterben etc. diskutiert wird, immer kommt auch Ethik vor. Was wäre ein Deutsch- oder Englischunterricht ohne Ethik? Was wäre Geschichte und Politische Bildung ohne Ethik? Oder gar Philosophie und Psychologie? Manchmal argumentieren die Befürworter eines alternativen Ethikunterrichts so, als gäbe es keine Ethik an den Schulen, dabei erlebe ich unter meinen Kollegen und Kolleginnen, dass im gesamten Fächerkanon ethische Grundfragen und Themenstellungen stets eine prägende Rolle spielen. Anders ausgedrückt: Ethik ist Unterrichtsprinzip aber nicht Unterrichtsgegenstand.
            Was wir allerdings brauchen würden ist eine Neudefinition von Religionsunterricht ohne die Falle entweder Religion oder Ethik . In unserer multireligiösen Welt muss eine strukturelle Debatte um den Religionsunterricht stattfinden. Die Schulklassen sind konfessionell schon längst nicht mehr homogen. Aus meiner Erfahrung möchte ich für folgenden Weg plädieren: Der derzeitige konfessionell geprägte Religionsunterricht als Pflichtfach in allen Schultypen ist aus mehreren Gründen sinnvoll. Die Durchführung dieses Unterrichts – bezogen auf Lehrpläne und Bestellung der Lehrkräfte – ist nicht Sache des Staates, sondern liegt in der Kompetenz der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Aufgrund der sinnvollen Trennung von Kirche – Staat ist es ohnehin nicht möglich, dass der Staat religiös-ethische Inhalte vorgibt. Wohin die „Staatsbürgerkunde“ in totalitären Regimen führte, ist bekannt. Allerdings sollte es möglich sein, dass in der Schule wirklich jeder und jede auf Wunsch vollberechtigt – also auch mit Benotung – am Pflichtfach Religion einer Konfession bzw. Religionsgemeinschaft teilnehmen kann. Derzeit schließen bestimmte Gesetze und eine entsprechende Interpretation eine solche Möglichkeit aus. Es ist schmerzlich täglich mitzuerleben, dass Schüler und Schülerinnen ohne Religionsbekenntnis bzw. einer anderen Konfession, die zum Teil keinen eigenen Religionsunterricht haben oder ihn aus bestimmten Gründen nicht besuchen wollen, nicht gleichberechtigt an einem bestimmten Religionsunterricht teilnehmen dürfen. Gerade sie arbeiten meist voller Engagement im Religionsunterricht mit und bringen ihre Erfahrungen und Fragen in die Klasse ein. Zugleich jedoch sehen die Gesetze vor, dass sie im Fach Religion keine Note bekommen dürfen, in der AHS nicht das Wahlpflichtfach Religion besuchen dürfen oder auch nicht in Religion zur Matura antreten dürfen. Der verpflichtende Ethikunterricht würde es überhaupt verhindern, dass konfessionslose oder andersgläubige Schüler am Religionsunterricht einer bestimmten Religion teilnehmen, was zu einem Erfahrungsverlust in den Religionsstunden führen würde. In unserer mehr und mehr säkularisierten Welt ist der Religionsunterricht für manche Schüler der einzige Ort, wo Religion explizit begreif- und erlebbar gemacht wird und ihre (religiösen) Fragen und Anfragen einen wichtigen Platz haben können.
Was muss getan werden? Der Religionsunterricht soll aus einer konfessionalistischen Engführung gebracht werden. Auf diesem Weg böte sich eine weit weniger komplizierte Variante als der Ethikunterricht an. Jeder Schüler und jede Schülerin hätte die Möglichkeit, einen Religionsunterricht zu besuchen. Das würde der Religionsfreiheit nicht widersprechen, da der Religionsunterricht keine Indoktrination in ein bestimmtes Glaubenssystem darstellt, sondern ein allgemeinbildendes Miteinanderlernen von religiös-ethisch-philosophischen Grundfragen aus einem bestimmten Blickwinkel anbietet. Der Religionsunterricht ist längst schon  „keine Belangsendung“ einer bestimmten Konfession mehr, obwohl ein kleinliches Auseinanderdividieren der Schüler und Schülerinnen in r.k., evang., islam., o.B. dies manchmal suggeriert. Ich erlebe es immer wieder, dass gerade Schüler und Schülerinnen ohne Religionsbekenntnis eine besondere Bereicherung im katholischen Unterricht sind. Ihre Fragestellungen würden fehlen, würden sie zwangsweise in einen Pflicht-Ethikunterricht gesteckt, der dann eine Ansammlung von religionskritischen oder religionsfernen Schülern und Schülerinnen werden würde, in dem die religiösen Zugänge von Schülerseite minder belichtet sein würden. Hinzu kommt, dass durch die Zweiteilung Religion oder Ethik aus technischen Gründen aufgrund der Teilnehmergröße in vielen Fällen lediglich eine Einwochenstunde möglich wäre bzw. gerade für die kleinen Kirchen und Religionsgemeinschaften der Unterricht noch schwerer zustande kommen würde. Mein Plädoyer lautet: Für einen konfessionellen aber nicht-konfessionalistischen Religionsunterricht als Pflichtfach, der jedem Schüler und jeder Schülerin die Möglichkeit gibt, vollwertig einen Religionsunterricht zu besuchen. Das könnte beispielsweise bedeuten, dass ein Schüler ohne Religionsbekenntnis sich aus Interesse entscheiden könnte, einen evangelischen Religionsunterricht oder einen buddhistischen oder einen islamischen ... zu besuchen – wodurch wiederum die Chancen steigen würden, dass dieser Unterricht mehrfach aufgewertet würde. Keinesfalls würde ein Schüler o. B. aber automatisch einem Ethikunterricht zugeordnet werden, wie dies zumindest implizit die Befürworter eines alternativen Ethikunterrichts vorsehen. Für diese Variante bräuchte es keine Gesamtänderung der gesetzlichen Lage, sondern lediglich die genannten geringfügigen und doch so wichtigen Korrekturen.
Dr. theol. Klaus Heidegger,
Religionslehrer am Privat. Oberstufenrealgymnasium Volders

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