Ethik oder Religion?
Zur Debatte um die Einführung eines alternativen Ethikunterrichts an
Österreichs Schulen
Bundesministerin Claudia Schmied hat angekündigt (25. August 2012),
Konzepte für einen Ethik-Unterricht an Schulen bis Jahresende vorzulegen. Einerseits
– so Schmied – soll an der bestehenden Regelung des Religionsunterrichtes
nichts verändert werden, andererseits peilt das Ministerium in Einklang mit den
Schulbehörden die Installierung des Pflichtfaches Ethik an. Wenn Schmied meint,
sie wolle kein „Entweder-Oder“ – entweder Ethik oder Religion als
Wahlmöglichkeit für Schüler – so ist dies von der Praxis her wohl kaum
durchführbar. Soll damit Ethik als Pflichtfach für alle eingeführt werden und
für andere noch zusätzlich Religionsunterricht? Dafür dürfte es in den Schulen
wohl keine zusätzlichen Werteinheiten geben. Wird also nicht doch mit dem
Ethikunterricht als Pflichtfach der Religionsunterricht de facto mehr und mehr
ausgehebelt? Was bedeutet es, wenn Religion oder Ethik als Entscheidungsalternative
vorgelegt wird?
Welches Bild von Religion und welches Bild von
Ethik wird einem Schüler oder einer Schülerin vermittelt, wenn er oder sie zu
Beginn eines Unterrichtsjahres vor die Wahl gestellt wird – und praktisch wird
es so ablaufen – Ethik oder Religion? Eine entsprechende Schülerentscheidung
muss dann sehr schnell stattfinden. Nichtkonfessionelle Schüler bzw. solche,
deren konfessioneller Unterricht mangels Teilnehmerzahl nicht stattfindet,
haben dann ohnehin nur mehr eine Wahlmöglichkeit, nämlich den Ethikunterricht. Auf
jeden Fall wird durch die Schulanfangsfrage „Religion oder Ethik?“ implizit ein
sehr verhängnisvolles und falsches Entweder-Oder kolportiert.
Dass Ethik ohne Religion
nicht unproblematisch ist, wird kaum bedacht. Eine religionslose Ethik kann in
gefährliche Abgründe geraten. Um gleich das abscheulichste Beispiel zu nennen:
Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki wurde mit ethischen
Argumenten legitimiert. Jeder Krieg – selbst Angriffskriege – wurde von Kriegsherren
mit ethischen Hinweisen begonnen oder
geführt. Es sind die Religionen, die demgegenüber einfordern: „Du sollst nicht
töten!“ Die strengen Asylgesetze wurden von den österreichischen
Bundesministern ethisch argumentiert. Jede Religion mahnt dagegen die besondere
Sorge für Flüchtlinge ein. Politiker und Wirtschaftstreibende, die auf
Wachstumsstrategien setzen, argumentieren ethisch, sie würden Arbeitsplätze
sichern, sie würden Steuern bringen usw. Jede Religion hingegen baut auf der
Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung auf. Auch wenn sich ethische Forderungen
mit religiösen Geboten decken, fehlt ihnen etwas Wesentliches, was die Religionen
einer „reinen“ Ethik voraus haben. Religiöse Verpflichtungen binden die
Menschen unbedingt. Die Bindung an Göttliches verpflichtet, wie es abstrakte
ethische Normen nie tun können. Mehr noch, das immer bereits vorausgehende
Geschenk der Gottesbegegnung ermöglicht erst ein ungezwungenes ethisches
Handeln, das auch gewaltfreie Gelassenheit zulässt. Diese Bindung der Ethik an
Religion bzw. eine religiöse Ethik hat gerade in der Zeit postmoderner
Beliebigkeiten jenes Potenzial, das der Verelendung, dem Hunger, der Zerstörung
der Umwelt, den Kriegen und der Aufrüstung die Stirn bietet. Ein letztes
Beispiel: Die chinesische Staatsführung bemüht ständig ethische Argumente, mit
denen die andauernde Besatzung und Menschenrechtsverletzung gegenüber dem
tibetischen Volk begründet werden, während der gewaltfreie Kampf des Dalai Lama
für die Autonomie Tibets zutiefst religiös-ethisch ist.
Genauso freilich wäre es
fatal, wenn durch die freie Wahl „Religion oder Ethik“ zumindest indirekt der
Eindruck entstünde, als könnte Religion ohne Ethik auskommen. Religiöses
Handeln ist immer zugleich ethisches Handeln. Im Tun der Menschen und ihrer
Organisationen offenbart sich erst die Religion. Der Glaube manifestiert sich in
der Praxis. Wo versucht wird, der Religion die Ethik zu entziehen, entstehen
die religiösen Fundamentalismen: ein religiöser Fanatismus ohne die
aufgeklärten ethischen Postulate Kant‘scher Prägungen, wie ihn alle Religionen
kennen. Ein Religionsunterricht ohne Ethik wäre das, was der Pius-Bruderschaft
mit ihrer voraufklärerischen Fundamentalmoral vorschwebt. Ein
Religionsunterricht ohne Ethik wäre blutentleert – genauso wie ein Ethikunterricht
ohne Religion. Das spüren die Schüler und Schülerinnen intuitiv. Ich könnte sie
verstehen, wenn sie sich für einen Ethikunterricht entscheiden würden, weil sie
spontan ebendort Antworten für ihre praktischen Lebensfragen finden könnten. Atheistisch
motivierte Befürworter eines Ethikunterrichts, deren Anliegen eine
religionslose Ethik ist, treffen sich in der Frage des Ethikunterrichts mit Kräften
aus dem katholischen Bereich, denen es darum geht, den Religionsunterricht wieder
mehr zu einem Katechismusunterricht umzugestalten. Dadurch werden vermeintliche
Klarheiten geschaffen: Religiöse Schüler in den Religionsunterricht, sogenannte
nicht-religiöse Schüler in den Ethikunterricht.
Ein zusätzliches Argument
wird ebenfalls kaum mitbedacht. Ethische Themen sind im Schulalltag aus den
anderen Fächern nicht wegzudenken. Im Gegenteil: Ob in Geographie und
Wirtschaftskunde die Fragen der weltweiten Gerechtigkeit, die Ursachen des
Hungers, der Klimawandel etc. erwogen werden oder in Biologie über Tierschutz,
Artensterben etc. diskutiert wird, immer kommt auch Ethik vor. Was wäre ein
Deutsch- oder Englischunterricht ohne Ethik? Was wäre Geschichte und Politische
Bildung ohne Ethik? Oder gar Philosophie und Psychologie? Manchmal
argumentieren die Befürworter eines alternativen Ethikunterrichts so, als gäbe
es keine Ethik an den Schulen, dabei erlebe ich unter meinen Kollegen und
Kolleginnen, dass im gesamten Fächerkanon ethische Grundfragen und
Themenstellungen stets eine prägende Rolle spielen. Anders ausgedrückt: Ethik
ist Unterrichtsprinzip aber nicht Unterrichtsgegenstand.
Was wir allerdings
brauchen würden ist eine Neudefinition von Religionsunterricht ohne die Falle
entweder Religion oder Ethik . In unserer multireligiösen Welt muss eine
strukturelle Debatte um den Religionsunterricht stattfinden. Die Schulklassen
sind konfessionell schon längst nicht mehr homogen. Aus meiner Erfahrung möchte
ich für folgenden Weg plädieren: Der derzeitige konfessionell geprägte
Religionsunterricht als Pflichtfach in allen Schultypen ist aus mehreren
Gründen sinnvoll. Die Durchführung dieses Unterrichts – bezogen auf Lehrpläne
und Bestellung der Lehrkräfte – ist nicht Sache des Staates, sondern liegt in
der Kompetenz der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Aufgrund der sinnvollen
Trennung von Kirche – Staat ist es ohnehin nicht möglich, dass der Staat
religiös-ethische Inhalte vorgibt. Wohin die „Staatsbürgerkunde“ in totalitären
Regimen führte, ist bekannt. Allerdings sollte es möglich sein, dass in der
Schule wirklich jeder und jede auf Wunsch vollberechtigt – also auch mit
Benotung – am Pflichtfach Religion einer Konfession bzw. Religionsgemeinschaft
teilnehmen kann. Derzeit schließen bestimmte Gesetze und eine entsprechende
Interpretation eine solche Möglichkeit aus. Es ist schmerzlich täglich
mitzuerleben, dass Schüler und Schülerinnen ohne Religionsbekenntnis bzw. einer
anderen Konfession, die zum Teil keinen eigenen Religionsunterricht haben oder
ihn aus bestimmten Gründen nicht besuchen wollen, nicht gleichberechtigt an einem
bestimmten Religionsunterricht teilnehmen dürfen. Gerade sie arbeiten meist voller
Engagement im Religionsunterricht mit und bringen ihre Erfahrungen und Fragen in
die Klasse ein. Zugleich jedoch sehen die Gesetze vor, dass sie im Fach
Religion keine Note bekommen dürfen, in der AHS nicht das Wahlpflichtfach
Religion besuchen dürfen oder auch nicht in Religion zur Matura antreten
dürfen. Der verpflichtende Ethikunterricht würde es überhaupt verhindern, dass
konfessionslose oder andersgläubige Schüler am Religionsunterricht einer
bestimmten Religion teilnehmen, was zu einem Erfahrungsverlust in den
Religionsstunden führen würde. In unserer mehr und mehr säkularisierten Welt
ist der Religionsunterricht für manche Schüler der einzige Ort, wo Religion explizit
begreif- und erlebbar gemacht wird und ihre (religiösen) Fragen und Anfragen
einen wichtigen Platz haben können.
Was muss getan werden? Der Religionsunterricht soll
aus einer konfessionalistischen Engführung gebracht werden. Auf diesem Weg böte
sich eine weit weniger komplizierte Variante als der Ethikunterricht an. Jeder
Schüler und jede Schülerin hätte die Möglichkeit, einen Religionsunterricht zu
besuchen. Das würde der Religionsfreiheit nicht widersprechen, da der
Religionsunterricht keine Indoktrination in ein bestimmtes Glaubenssystem
darstellt, sondern ein allgemeinbildendes Miteinanderlernen von
religiös-ethisch-philosophischen Grundfragen aus einem bestimmten Blickwinkel
anbietet. Der Religionsunterricht ist längst schon „keine Belangsendung“ einer bestimmten
Konfession mehr, obwohl ein kleinliches Auseinanderdividieren der Schüler und
Schülerinnen in r.k., evang., islam., o.B. dies manchmal suggeriert. Ich erlebe
es immer wieder, dass gerade Schüler und Schülerinnen ohne Religionsbekenntnis
eine besondere Bereicherung im katholischen Unterricht sind. Ihre
Fragestellungen würden fehlen, würden sie zwangsweise in einen Pflicht-Ethikunterricht
gesteckt, der dann eine Ansammlung von religionskritischen oder religionsfernen
Schülern und Schülerinnen werden würde, in dem die religiösen Zugänge von
Schülerseite minder belichtet sein würden. Hinzu kommt, dass durch die
Zweiteilung Religion oder Ethik aus technischen Gründen aufgrund der
Teilnehmergröße in vielen Fällen lediglich eine Einwochenstunde möglich wäre
bzw. gerade für die kleinen Kirchen und Religionsgemeinschaften der Unterricht
noch schwerer zustande kommen würde. Mein Plädoyer lautet: Für einen konfessionellen
aber nicht-konfessionalistischen Religionsunterricht als Pflichtfach, der jedem
Schüler und jeder Schülerin die Möglichkeit gibt, vollwertig einen
Religionsunterricht zu besuchen. Das könnte beispielsweise bedeuten, dass ein
Schüler ohne Religionsbekenntnis sich aus Interesse entscheiden könnte, einen
evangelischen Religionsunterricht oder einen buddhistischen oder einen
islamischen ... zu besuchen – wodurch wiederum die Chancen steigen würden, dass
dieser Unterricht mehrfach aufgewertet würde. Keinesfalls würde ein Schüler o.
B. aber automatisch einem Ethikunterricht zugeordnet werden, wie dies zumindest
implizit die Befürworter eines alternativen Ethikunterrichts vorsehen. Für
diese Variante bräuchte es keine Gesamtänderung der gesetzlichen Lage, sondern
lediglich die genannten geringfügigen und doch so wichtigen Korrekturen.
Dr. theol. Klaus Heidegger,
Religionslehrer am Privat. Oberstufenrealgymnasium Volders
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