Samstag, 23. Mai 2015

Militärmusik oder Entmilitarisierung



Militärmusik und die Frage des Krieges
Die Diskussion um die Fortführung der Militärmusik in Österreich in gewohnter Form und Stärke folgt meist über monetäre Argumente. Die geplante Reduzierung der acht Militärmusikkapellen um zwei Drittel wird von Seiten des Ministeriums und der Regierung mit notwendigen Einsparungen begründet. Derzeit betragen die direkten Aufwendungen für die heimische Militärmusik 11 Millionen Euro. Das ist tatsächlich ein hoher Betrag, wenn es mit dem Ertrag in Korrelation gebracht wird. Jene, die gegen die Kürzungen für die Militärmusik sind, argumentieren auch auf finanzieller Ebene. Gemessen am Gesamtbudget des Heeres betrage diese Summe lediglich 0,56 Prozent. Die zentrale Frage „cui bono?“ – wem nützen Musikkapellen in Heeresuniform – wird kaum gestellt.
In der Geschichte hat die Militärmusik stets kriegerisches Geschehen unterstützt. In diesen Tagen wird in Tirol daran gedacht, als die ersten Kompanien in den Krieg gegen Italien aufbrachen. Pfingsten 1915. Hundertschaften von zwangsverpflichteten Soldaten zogen in sinnlose Schlachten. Beim Abmarsch gingen ihnen Militärkapellen voraus. Gleichschrittmusik macht Körper zu Gleichschrittmaschinen. Der Marsch wird zur musikalischen Kriegspropaganda. Die Aufgabe der Militärmusik war es immer schon, den „guten Ton“ zum martialischen Getöse zu machen. Der Kampfeswille sollte gestärkt werden. 1915 schrieb Kurt Tucholsky im Gedicht „Unser Militär“ im letzten Vers: „Aber noch übertönte den Jammer im Krieg: Militärmusik! Militärmusik!“
Auch heute ist der primäre Zweck der Musiker in Tarnfarbe nicht, schöne Musik zu bieten, sondern Sympathieträger für das Heer zu sein; vor allem soll eine emotionale Brücke zwischen Bevölkerung und Armee hergestellt werden. Der österreichische Spitzendiplomat der Nachkriegsjahre, Josef Schöner, schrieb in sein Tagebuch: „Überhaupt finde ich, daß trotz aller pazifistischen Vernunftargumente richtige Marschmusik etwas ist, das das Unterbewußtsein der Masse ganz direkt anrührt und aufrüttelt, sie geht ohne den Umweg über das Gehirn direkt an die Massenseele. Da kann die Vernunft noch so schöne Reden gegen den Militarismus halten – die Trompeten eines Militärmarsches rütteln die Herzen auf.“ Militärmusik verhindert auch Rekrutierungsprobleme. Ich könnte an dieser Stelle Dutzende meiner ehemaligen Schüler aufzählen, die auf die Frage, warum sie zum Heer gingen, die Militärmusik nannten. Dies gab ihnen tatsächlich die Möglichkeit zu einer gediegenen musikalischen Weiterbildung.
Sinn und Ziel der Militärmusik ist und bleibt, der militärischen Logik eine emotionale Basis zu geben und das militärische System zu stärken. Ein Land mit mikrigem Entwicklungsbudget bräuchte jedoch andere Töne: Es ginge nicht darum, in die militärischen Eskalationen überall auf dieser Welt noch mehr auf Militär zu setzen, sondern auf eine Politik der Deeskalation, der friedlichen Konfliktlösungsstrategien und, ja auch dies, der Entmilitarisierung. Dafür steht eben eine Militärmusik nicht. In einer Welt voller Kriege fehlt es an Signalen gegen jede Form der Militarisierung. Daher wäre eine Abschaffung der Militärmusik ein kleiner Schritt in eine Welt des Friedens.
Dr. Klaus Heidegger, klaus.heidegger@aon.at – 23.5.2015, „Gedenktag zum Kriegsbeginn in Tirol vor 100 Jahren“

Mittwoch, 20. Mai 2015

Pfingsten als sozial-ökonomische Revolution



Pfingsten als sozial-ökonomische Revolution  -
eine historisch-kritische und materialistische Exegese der biblischen Pfingsttexte und ihre Anwendung auf das Heute
(Apostelgeschichte 2,1-11 und Johannes 20,19-33)
von Klaus Heidegger

Das Pfingstwunder der Bibel
Unglaubliches, Unfassbares ist geschehen. In der Hauptstadt Judäas. In Jerusalem. Zur Zeit der Weltherrschaft des Kaisers Tiberius. Etwas mehr als 50 Tage, nachdem Jesus von Nazareth als Rebell und Aufrührer auf grausame Weise hingerichtet worden war, 50 Tage, nachdem dieser Jesus erstmals seinen Jüngern und Jüngerinnen als Auferstandener begegnet ist. Was ist geschehen?
Immer noch geschockt von den Ereignissen sitzen die Jünger und Jüngerinnen Jesu hinter verschlossenen Türen zusammen. Ja, sie wissen: Jesus ist auferstanden. Jesus ist ihnen auch schon erschienen. Auferstanden in ihren Köpfen und Herzen, in ihrem gemeinsamen Mahlhalten, im Einstehen füreinander. Ihre Angst ist damit nicht gewichen. Der Schock über Jesu Hinrichtung sitzt ihnen noch tief in den Knochen. Es war ein brutaler, ein feiger Mord, typisch für die römischen Besatzungstruppen, die das Land mit äußerster Gewalt unter Kontrolle hielten. Abertausende sind von den römischen Soldaten gekreuzigt worden; jüdische Mädchen und Frauen sind misshandelt oder als Sklavinnen verkauft worden. Jene, die mit Jesus gezogen sind, sind gefährdet.
Da hocken nun die Jünger und Jüngerinnen in einem armseligen Haus in Jerusalem zusammen. Wir kennen einige ihrer Namen. Es sind durchwegs Leute der Unterschicht. Da war der Jünger Bartimäus. Als blinder Bettler hatte ihn Jesus in die Nachfolge berufen. Weit unter dem Existenzminimum hatte er gelebt. Oder der Bruder von Jesus, Jakobus, oder die Söhne des Zebedäus, und natürlich Petrus und Andreas, ehemals Fischer aus dem Norden des Landes. Und natürlich sind da auch die Frauen, die Galiläerin Maria von Magdala, eine besondere Gefährtin von Jesus, und da sind Maria und Martha aus Betanien, Maria, die Mutter Jesu, und noch viele andere. Sie alle waren ohne Sozialprestige, ohne gesellschaftliches Ansehen, ohne materielle Sicherheiten. Sie kannten die Not in Palästina aus eigener Erfahrung und als Betroffene. Sie wussten von der groben Ungerechtigkeit. Die Botschaft ihres Meisters öffnete ihnen die Augen, um die Ausbeutungsverhältnisse zu durchschauen. Sie träumten zugleich von einem messianischen Gottesreich, in dem – wie es Maria so wunderbar besang – die Herrschenden vom Thron gestürzt, die Habenichtse aber emporgehoben werden.
Wer solche Träume und politischen Ziele hatte, galt als gefährlich. Jeden Moment mussten die Anhänger und Anhängerinnen Jesu damit rechnen, dass sie ebenfalls wie Jesus als „Revoluzzer“ und Unruhestifter verurteilt werden könnten. Kein Wunder also, dass sie vorsichtig waren, dass sie sich nicht hinauswagten.
Pfingsten als Mut zum Aufbruch
Da aber geschah das Unerwartete. Da ereignete sich Pfingsten. In diese Situation von Verzagtheit und Angst und Furcht hinein. Verzagtheit wird durch Mut ersetzt, Angst durch Zuversicht und Furcht durch Furchtlosigkeit abgelöst. Das ist Pfingsten. Das ist die Gabe des Geistes. Die Konsequenzen sind unübersehbar. So plötzlich streifen die Jünger und Jüngerinnen ihre Ängste ab. Sie haben ihre Furcht vergessen. Die einfachen Bauern und Bäuerinnen aus Galiläa, die von der Jerusalemer Stadtbevölkerung abschätzig als ungebildet, als dumm, als unzivilisiert, als unrein betrachtet wurden, kaum würdig für das Wort Gottes, diese Analphabeten und Analphabetinnen entwickeln plötzlich ein enormes Selbstvertrauen. Weit machen sie nun die Türen auf. Furchtlos treten sie vor die anderen Menschen, die so zahlreich in Jerusalem waren. Diese Männer und Frauen aus der Unterschicht Palästinas wagen den Aufbruch. Stellvertretend für die anderen, so könnten wir jetzt in der Apostelgeschichte weiterlesen, tritt dann Petrus unerschrocken vor die Menge. Er wagt es sogar, sich auf den Propheten Joel zu beziehen, und spricht vom Anbruch des messianischen Reiches, das ist nichts weniger als eine soziale und politische Revolution, die die Verhältnisse völlig umgestaltet.
Pfingsten als konkrete Eutopie
Alles bloß eine Utopie? Eine charismatische Schwärmerei? Sind die Jünger und Jüngerinnen da bloß ausgeflippt? Nein!! Wir müssen nur in der Apostelgeschichte weiter lesen, dann erfahren wir die unmittelbaren Auswirkungen von Pfingsten. Die handgreiflichen Wirkungen. Der Geist Jesus bewirkt erstens, dass die einzelnen Menschen Mut bekommen, dass sie den Aufbruch - das ist die Nachfolge Jesu - wagen können, dass sie die enorme Zuversicht bekommen, in die Fußstapfen Jesu zu treten. Der Geist Jesu bewirkt zweitens, dass sich die einzelnen aber in Gemeinschaften zusammentun. Deswegen ist Pfingsten der Geburtstag der Kirche, der Geburtstag der christlichen Gemeinden. Der Geist Jesus bestimmt drittens die Art und Weise, wie die ersten Christen und Christinnen ihr Gemeindeleben gestalten: Diese Menschen in den urchristlichen Gemeinden, so schreibt Lukas, waren „ein Herz und eine Seele“. In die Kirche gehen, Christ sein, Christin sein, das war nicht - wie bei uns heute vielmals - eine bloß geistige Sache, ein schönes Wort, ein positives Feeling - nein: das war für die ersten Christen und Christinnen durch und durch handfest. Das hatte praktische materielle Konsequenzen. Darin liegt das Pfingstwunder, darin liegt die Gabe des Geistes: Die Menschen waren befähigt zur Gütergemeinschaft. Sie hatten alles gemeinsam. Manche sprechen auch von einem Urkommunismus. Und das Wunder dieser ökonomischen Ordnung stellte sich sofort ein: Niemand unter ihnen litt Not, jeder und jede hatte das, was er und sie nötig hatte. Ein sozialpolitisches Pfingstwunder. Pfingsten erweist sich für die ersten Christen und Christinnen als soziale Revolution. Gerade in einer extremen Notsituation, in der die ersten christlichen Gemeinde waren, wiederholte sich das, was Jesus bereits in den Brotwundern zeigte: In Gemeinschaften, die sich am Prinzip des Teilens orientieren, werden die sozialen Spannungen aufgehoben. Das bedeutet, dass es keine mehr gibt, denen die Grundbedürfnisse versagt bleiben. Die Gabe des Geistes ist daher die Fähigkeit, eine Gesellschaft und eine Wirtschaft so zu gestalten, dass niemand mehr Not leidet, dass die zentralen Bedürfnisse aller Menschen erfüllt werden.
Pfingstwunder im Heute
Weit sind wir heute vom Pfingstwunder entfernt! Wie damals die Jünger und Jüngerinnen um ihr Leben bangen mussten, so werden heute Christen und Jesiden von islamistischen Terrorbanden verfolgt. Abertausende wollen aus Elend und Kriegssituationen fliehen und stranden an den Wohlstandsmauern. Pfingstwunder, das wäre, wenn die Türen von Häusern und Kasernen geöffnet würden, um Flüchtlingen Unterkunft zu geben; wenn in Österreich nicht mehr Zeltstädte für Asylsuchende errichtet würden; wenn sich Bürgermeister nicht mehr mit bürokratischen Tricks gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in ihren Heimatgemeinden stellen würden – aus Angst vor Stimmenverlust bei den nächsten Gemeinderatswahlen.
Pfingstwunder im globalen Dorf, das wäre ein Abkehr von einer kannibalischen Weltordnung. Alle fünf Sekunden stirbt irgendwo auf dieser Welt ein Mensch an den Folgen von Hunger und Unterernährung. Zehntausende Menschen sind ohne Erwerbsarbeit. Das große Teilen, das aus dem biblischen Pfingstwunder folgte, ist weit weg. Einkommensunterschiede wachsen. Während die Reichen reicher werden, sind 15 Prozent der österreichischen Haushalte von Armut betroffen.
Furchtlosigkeit war Folge des pfingstlichen Wunders damals. Wer keine Furcht hat, wird sich nicht bis an die Zähne bewaffnen. In diesem Europa wird weiter kräftig gerüstet, werden neue Waffenstellungen aufgebaut. An Plänen für eine EU-Armee wird gebastelt und weiterhin werden junge Männer hierzulande automatisch auf militärische Konfliktlösungen trainiert.
Möge die Geistkraft wie ein Wirbelwind die zerstörerischen Mechanismen unserer Wirtschaftsordnung verändern. Möge die Geistin wie ein sanfter Windhauch uns zum Teilen befähigen. Möge der göttliche Beistand uns mit Feuerzungen Mut zu Visionen geben, damit wir unsere Furcht und Angst überwinden können. Möge der Geist uns zu Geschwistern machen. Möge uns der pfingstliche Geist die Furcht nehmen, so dass wir uns entwaffnen und die Feinde zu unseren Freunden machen.
Pfingsten 2015

Samstag, 9. Mai 2015

Eiswinde aus dem Norden und Süden - nach den Wahlen in Großbritannien



Eisige Winde aus Nord und Süd zur Zeit der Eisheiligen
Es weht ein eisig kühler Wind von Nord und Süd, der mich frösteln lässt, der mir die Freude an der draußen aufblühenden Natur trübt und eine positive Grundstimmung aus den Gesichtszügen nimmt. Die Kraft und der Geist der Auferstehung – wo sind sie im großen Geschehen dieser Welt spürbar? Wo sind sie nicht nur in den Nischen und an den Rändern des kollektiven Weltgeschehens wahrnehmbar?
In Großbritannien haben die regierenden Tories einen fulminanten Sieg errungen. Sie werden künftig mit Regierungschef David Cameron die Alleinregierung übernehmen. Im britischen Unterhaus können sie mit 331 der 651 Sitze über die künftige Politik Großbritanniens bestimmen. Auch die rechtsnationalistische UKIP erreichte 13 Prozent der Stimmen. David Cameron hat sich in den letzten Jahren als Regierungschef präsentiert, der auf ein einsatzbereites Militär setzt. Den Islamischen Staat wollte er „zerquetschen“. Militärschläge in Syrien sollten auch ohne Zustimmung der syrischen Regierung durchgeführt werden. Kurdische Widerstandskämpfer wurden militärisch ausgerüstet. Das Kabinett Cameron stand in der letzten Regierungsperiode für eine Politik eines unilateralen Militarismus in Abstimmung mit der US-Politik. Großbritannien befindet sich knapp hinter Frankreich mit 60 Milliarden US-Dollar (2014) an 6. Stelle der Staaten mit den weltweit höchsten Militärausgaben. Angesichts des hohen Staatsdefizits und eines zu knappen Sozialbudgets sind diese Militärausgaben aus der Perspektive der Gerechtigkeit und des Friedens ein Skandal. Die UK Deterrent Forces verfügen weiterhin über einsatzbereite Atomraketen. Die britische Rüstungsindustrie beliefert mit Milliardenaufträgen kriegführende Länder wie Saudi-Arabien, Russland oder Sri Lanka. Gegenwärtig bombardieren Kampfflugzeuge aus britischer Produktion Städte und Dörfer im Jemen und erzeugen ein neues humanitäres Desaster. Großbritannien steht an 5. Stelle im Ranking der weltweit größten Exporteure von Kriegsmaterial.
In Israel hat eine rechts-„religiöse“ Koalition unter Führung von Netanjahu die Regierungsgeschäfte übernommen. In dieser Koalition sind Kräfte, die den Siedlungsbau in Palästina forcieren. Es ist eine Koalition, die den Krieg gegen das palästinensische Volk fortsetzt.
Europaweit finden Gedächtnis-Zeremonien zum Kriegsende vor 70 Jahren statt. In Tirol wird in diesen Maitagen vor allem an die Ereignisse vor 100 Jahren gedacht, als 1915 mit der Kriegserklärung Italiens im Süden meiner Heimat die Brutalität eskalierte. Tu felix Austria? 100 Jahre später, 70 Jahre später – es sind Politiker an der Macht, die weiterhin in militärischer Logik verhaftet sind. Während auf der einen Seite das Ende der großen Kriege gefeiert wird, wird auf der anderen Seite für neue Kriege gerüstet. Der Ruf vor 70 Jahren – Nie wieder Krieg! Nie wieder Kriegsbeteiligung! Nie wieder Militärbündnis! – der sich kurze Zeit später im Staatsvertrag und in den Neutralitätsverpflichtungen manifestierte, wird heute mit der Missachtung der österreichischen Neutralität verraten. Just am Tag, an dem die Befreiung aus den Klauen der Naziherrschaft gefeiert wurde, propagiert die ÖVP ihre Vorstellung von einer Europa-Armee. Die Stellvertreterin von ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner und EU-Abgeordnete Elisabeth Köstinger wird beim ÖVP-Parteitag diese Idee vorstellen. Es sei mit Lissabon-Vertrag und dem Status der österreichischen Neutralität vereinbar, so meint sie. Was heimische Sicherheitsexperten wie der Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik, Heinz Gärtner, dazu sagen, wird ignoriert.
Bei diesen eisigen Winden bräuchten Menschen, die sich gegen Krieg und atomaren Wahn auf dieser Welt einsetzen und Nein zu Aufrüstung ohne Wenn und Aber sagen, die wärmende Gegenwart von Seelenverwandten und Gleichgesinnten.
Klaus Heidegger, 9. Mai 2015

Samstag, 2. Mai 2015

Je sui Jesus: Jesus Selfies und die Ich-bin-Worte Jesu



Je suis Jesus: Jesus-Selfies, die keine Selfies sind
Die Ich-bin-Worte im Johannes-Evangelium sind keine Worte, die Jesus selbst so gesprochen hätte. Die moderne Bibelauslegung spricht davon, dass es keine „ipsissima verba“ seien, das heißt keine Worte, die von Jesus selbst stammen würden. Was wir historisch-kritisch über diesen Mann aus Nazareth sagen können, lautet: Er war Jeschua ben Mirjam aus Nazareth in Galiläa: Jesus, Sohn der Maria, der als eine Art Wanderrabbi mit einem bunten Haufen von Jüngern und Jüngerinnen die prophetische Tradition des Volkes Israel aufgegriffen hat und damit bewusst provokant die herrschende Clique aus römischer Besatzungsmacht und lokalen Kollaborateuren und Mitläufern herausgefordert hat. Als tiefgläubiger Jude hat er sich nicht selbst als „Gott“ inszeniert. Dies wäre in jüdischem Verständnis „Blasphemie“ gewesen. Im ältesten Evangelium schreibt Markus mehrmals davon, dass Jesus auch nicht als Messias bezeichnet werden wollte. Die Mitte seiner Botschaft wird aber gleich im 1. Vers dieses Evangeliums als programmatisches Vorzeichen deutlich: Das Reich Gottes ist angekommen. (Mk 1,1)
Jesus hat nicht dem postmodernen Typen heutiger Zeit entsprochen. Wenn viele Worte in den Evangelien so klingen, muss heute gesagt werden: Jesus hat keine Nabelschau betrieben. Ihm ging es nicht darum, sich selbst in Szene zu setzen, sondern seine Botschaft vom Reich Gottes lebendig werden zu lassen. Dieser Blick ist wichtig, damit die Selfie-Generation heute mit ihren egozentrischen Selbstinszenierungen nicht auch noch sagen könnte: Dieser Jesus hat sich selbst narzisstisch überhöht.
Nein, würde dieser Jesus heute leben, so würde er kein optimiertes Social-Media-Profil haben, in dem er sich als „Sohn Gottes“ anpreist. Man würde keine Selfies von ihm entdecken, dafür aber die Nobodys seiner Zeit: Jene, die als Opfer am Rand der Gesellschaft leben mussten, die Bettler, die Kranken, die gedemütigten Frauen. Damit entspricht Jesus so gar nicht der heutigen Ego-Generation. Er war keine Chamäleon-Existenz, der sich von der sozialen Umwelt nicht abgehoben hätte. Die Jesusbewegung hat sich nicht angepasst, hat sich mit Unterdrückung und Ausbeutung nicht abgefunden. Man könnte ihn nicht mit Duckface vor dem Tempel in Jerusalem sehen, das über facebook, Instagramm, Twitter und Co gepostet wird und Tausende Likes erhält. Das wäre für einen Widerständler auch zu gefährlich gewesen.
Johannes gibt mit den Ich-bin-Worten Jesu kein Selfie von Jesus wider. Im Gegenteil. Wenn er Jesus sprechen lässt „ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11), dann steht dahinter die Erfahrung der ersten Gemeinschaften von Jüngern und Jüngerinnen, wie Jesus als Auferstandener in ihrer Mitte erfahrbar wird. Nicht als Terminator-Gestalt, der tabula rasa macht mit denen, die nicht in eine bestimmte Linie passen, sondern einfühlsam hinhorchend, jeden und jede in der eigenen Existenz ernst nehmend. Diese Jesus-Gestalt kennt jedes Blöken der Schafe, egal ob schwarz oder weiß. Jedes Schaf hat Vertrauen in ihn. Dieser Jesus wird in der johanneischen Gemeinde des 1. Jahrhunderts identifiziert mit einem Berufszweig, der in der Hierarchie der jüdisch-palästinensischen Gesellschaft Jesu ganz unten stand, galten Hirten doch im System von rein-unrein als unrein, weil sie den Kontakt mit den Tieren pflegten. In der griechisch-römischen Antike wiederum ist der Hirte wie Hermes der Götterbote, der ein Schaf auf seinem Rücken trägt.
Der, der im Lukasevangelium von den Hirten begrüßt wurde, wird selbst zum Hirten. Er ist nicht kaisergleich, sondern hirtengleich, nicht gegürtet mit Schwert, sondern mit Hirtenstab. Was Hirten immer schon auszeichnete, ist die Verbindung mit der Natur, denn nur so wissen sie, wie sie den Wölfen ausweichen und die Wasserstellen finden können. Jesus wird zunächst nicht einmal als Ackerbauer bezeichnet, weil diese Existenzweise schon stärker auf Besitz von Grund und Boden und damit mit Sesshaftigkeit verknüpft ist. Ein Hirte hingegen war damals unterwegs. Nomadenexistenz.
Die Johannes-Gemeinde hat noch weitere Metaphern, um die Auferstehungsexistenz Jesu zu versinnbildlichen. Johannes legt Jesus die Worte in den Mund: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“. Und wieder steckt dahinter Erfahrung, Empirie. Die Erfahrung, dass in der Verbundenheit mit Jesus Christus das Leben gelingen kann. Die Erfahrung, dass das Leben gelingt, wenn wir in unseren Gemeinschaften, in der Kirche, in den Dörfern und Stadtteilen, in den Schulen und Klassenzimmern, in den Fabriken und Arbeitsstätten rebengleich wie ein Team zusammen arbeiten. Solches wird „Frucht“ bringen können. In die heutige Sprache übersetzt könnten die Johannes-Worte lauten: Ich bin der Coach, der euch zu Teamplayern macht, und eure Arbeit wird gelingen. Die Erfahrung mit Auferstehung zeigt, dass Jesusnachfolge ein gutes Leben für alle zum Ziel hat. Dies kann nicht erreicht werden durch Einzelgängertum, durch egoistische Ellbogentaktik, durch Win-lose-Strategien. Die sauren Weinbeeren an den Reben sind die Karrieresüchtigen und jene, die nur auf den eigenen Gewinn achten.
Johannes schrieb für eine Gemeinde, die brutaler Verfolgung ausgesetzt war. Sie sind vergleichbar mit den Jesiden und Christen, die heute unter dem Terror des Islamischen Staates leiden. Sie wurden damals aus den „Synagogen“ ausgeschlossen und mit Steinen beworfen. Von der römischen Zentralmacht wurden Christen und Christinnen gnadenlos verfolgt, die Säulen der ersten Gemeinden wurden umgebracht, Petrus gekreuzigt, Paulus geköpft, Stefanus gesteinigt. Trotzdem wuchs die Zahl jener, die sich zu Christus bekannten, weil sie wussten: Seine Botschaft funktioniert. Da gibt es niemanden mehr, der in diesen Gemeinden Not leidet, weil man zu teilen begonnen hat. Da werden die Häuser zu Orten der Gastfreundschaft und das Gerücht über die ersten Christen verbreitete sich im ganzen römischen Reich: Seht, wie sie einander lieben! Ich bin der Löwenzahn, der in einem Spalt zwischen Asphalt und Mauer zu blühen beginnt.

Welche Ich-bin-Worte, oder im Polit-Jargon unserer Zeit, welche „Je-suis-Worte“ Jesu entsprächen heute den Erfahrungen von Auferstehung Jesu Christi? Wie würden wir heute, die wir in einem Land leben, in der es gerade drei Prozent Bauern gibt, und die wir nicht mehr in den Kategorien von „guter Hirte“ und „Weinstock“ denken, das Profil von Jesus wiedergeben?
Ich bin das Rettungsboot für die Flüchtlinge, die bei der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer in Seenot geraten sind. Ich bin die Schülerin, die einer verzweifelten Mitschülerin Nachhilfe in Mathe gibt, damit sie das Klassenziel doch noch erreichen wird. Ich war der Deserteur aus dem Vomperloch, der sich dem Kriegszwang verweigerte. Ich bin die Caritas, die sich der konkreten Not in dieser Gesellschaft annimmt, der größer werdenden Zahl von Menschen, die unter der Armutsgrenze leben. Ich bin die Schwangere, die sich keine Abtreibung einreden lässt, weil ihr werdendes Kind mit Down-Syndrom auf die Welt kommen wird. Ich bin die Biobäuerin, die darauf achtet, dass es ihren Tieren gut geht und die Pflanzen ohne Großeinsatz von Chemie wachsen können. Ich bin der Unternehmer, der für ein gutes Arbeitsklima in seinem Betrieb sorgt und auf faire Produktionsverhältnisse achtet. Ich bin die Green-Peace-Aktivistin, die sich an Kampagnen gegen Atomkraftwerke beteiligt und selbst achtsam mit den Ressourcen dieser Welt umgeht, die auf Flugreisen um des Klimas willen verzichtet und selbst vegetarisch lebt. Ich war Bertha von Suttner, die gegen den Krieg anschrieb und sich enttäuscht über die Kriegsbegeisterung in der Kirche zeigte. Ich bin der Demonstrant gegen TTIP und schreibe gegen den grenzenlosen Kapitalismus an. Ich bin die Krankenschwester, die für die Patienten und Patientinnen stets ein aufmunterndes Wort und liebevolle Pflege hat. Ich bin. Ich bin. Ich bin. … Wer ist Jesus für dich? Welche Erfahrungen hast du selbst und deine Gemeinschaft mit ihm? Möge der Auferstandene in dir lebendig werden. Möge der Auferstandene in deinen Gemeinschaften lebendig werden.
Klaus Heidegger, zu den Sonntagsevangelien im Mai 2015