Sonntag, 29. Juli 2012

Religionsfreiheit und rituelle Beschneidung


Religionsfreiheit und die Freiheit, über religiöse und kulturelle Riten zu diskutieren
(1.    Fassung zur Diskussion, gedacht als Diskussionspapier, 29. Juli 2012

Religionsfreiheit soll garantieren, dass Menschen das Recht haben, ihre religiösen Praktiken frei auszuüben. Wenn Juden und – in etwas anderer Weise – Muslime es als konstitutiv für ihren Glauben betrachten, Burschen zu beschneiden, dann darf ihnen dies nicht vom Staat her verwehrt werden. Ein Verbot der religiösen Zirkumzision, in welcher Art auch immer – beispielsweise dass Ärzte oder Krankenhäuser dies nicht mehr tun dürften oder dass Beschneidung von Unmündigen unter Strafe gestellt würde[1] – käme einer Beschneidung der Religionsfreiheit gleich. Die freie Ausübung der Religion ist ein hoher Wert, der den Schutz des Staates verdient.
Auf der anderen Seite muss es erlaubt sein, über religiöse Praktiken zu diskutieren und nicht jeder, der diese Diskussion aufgreift, ist ein Gegner der Religion. Beispiele für das Hinterfragen von Bräuchen und Traditionen in den Religionen gäbe es viele: Warum werden Frauen in der römisch-katholischen Kirche von kirchlichen Weiheämtern ausgeschlossen? Eine Debatte über diese antiquierte frauenfeindliche und sexistische Praxis findet in der katholischen Kirche statt, auch wenn ebendiese Diskussion dem Vatikan unangenehm ist und Päpste bereits ein Quasi-Diskussionsverbot darüber ausgesprochen hatten. Der Staat kann jedoch nicht kommen und der katholischen Kirche mit dem Argument der Gleichberechtigung die Zulassung von Frauen zu Weiheämtern aufzwingen. Wir könnten sagen: Die Lösung muss innerkatholisch geschehen. Genauso braucht es auch eine innerislamische oder innerjüdische Diskussion über die Bedeutsamkeit der Zirkumzision. Ist sie wirklich konstitutiv für den jüdischen Glauben oder nicht viel mehr eine der 613 Vorschriften, die eher in eine arabische Stammesgesellschaft lange vor unserer Zeitrechnung hinein reicht, nicht aber weiterhin aus heutiger Sicht begründet werden kann? Als Christ kann und darf ich dazu nicht urteilen.
Es ist sicherlich verfehlt, wenn laut Kölner Urteilsspruch Eltern und Ärzte strafrechtlich belangt werden könnten, wenn ein Kind beschnitten wird.  Auch das Argument des Selbstbestimmungsrechtes von Kindern scheint weit hergezogen zu sein. Kinder wachsen nicht in einem religiösen und kulturellen Nichts auf, sondern lernen die Sprache der Religion und Kultur von klein auf;  Werthaltungen werden bereits mit der Muttermilch aufgesogen. Eltern würden ihre Erziehungspflicht verletzen, würden sie Kinder nicht auch religiös-ethisch erziehen. Dazu zählt immer auch die Eingliederung in eine (Religions-)Gemeinschaft, in der diese Werte gelebt werden. Auch eine bewusste Erziehung im Sinne des Atheismus ist eine Vorentscheidung für ein Kind.
Verfehlt ist es allerdings auch, wenn religiöse Gesetze oder Praktiken sich nicht mehr einer kritischen Diskussion unterziehen sollten. Darüber stritten Juden bereits in den Jahren 30 bis 50 nach Christus, bis der eifrige Jude Paulus zur Erkenntnis kam, dass dieser Ritus für Heidenchristen nicht mehr notwendig sei. Eine jüdische Reformbewegung entschied sich also aus religiösen Gründen und in einer lebhaften innerjüdischen Diskussion auf Beschneidung zu verzichten. Keine andere Religion und kein Staat diktierte ihr diese Entscheidung auf.
Erlaubt sei also eine Diskussion, nicht mit dem Hintergrund Religion einzuschränken, sondern um ihr neue Freiräume zu geben. Kulturelle Gepflogenheiten innerhalb einer Religion können sich auch ändern.
(1)    Ist es wirklich so, dass Beschneidung „wie Fingernägel schneiden“ [2]ist?  Wenn der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Fuat Sanac, diesen Vergleich bringt, dann macht er sich doch unglaubwürdig. Fingernägel schneiden ist etwas Alltägliches und kein Kind wird sich davor fürchten. Ein „Eingriff“ in eines der sensibelsten Körperteile eines Jungen kann damit wohl nicht verglichen werden. Fingernägel schneiden ist hygienisch gesehen absolut notwendig, ein Schnitt am intimsten Körperteil sicherlich nicht. Beschneidung ist unumkehrbar und schmerzhaft. Noch immer findet sie in vielen Ländern dieser Erde unter unwürdigen Bedingungen statt. Selbst wenn sie unter Narkosebedingungen erfolgt, bleiben Schmerzen im postoperativen Stadium über längere Zeit.[3]

(2)    Im Islam wird Beschneidung – im Gegensatz zum Judentum – ohnehin nicht als religiöse Pflicht  gesehen, insofern ist es auch keine unbedingte Forderung an einen gläubigen Muslim. Es ist nicht richtig, wenn argumentiert wird, dass Zugehörigkeit zum Islam und Beschneidung als untrennbare Elemente gesehen werden. Nirgendwo schreibt der Koran eine Beschneidung vor. Dagegen heißt es im Koran, dass der menschliche Körper von Allah perfekt geschaffen wurde und keiner menschlichen Verbesserung bedarf. Andererseits wird unter Muslimen die Beschneidung doch als „religiöser Akt“ interpretiert.[4]

(3)    Auch innerhalb des Judentums gibt es kritische Stimmen gegenüber der Beschneidung, der Verpflichtung zur Brit Milah.  Seit vielen Jahren findet in der jüdischen Weltgemeinschaft eine Entwicklung statt, die die religiöse Beschneidung an Neugeborenen in Frage stellt und hinter sich lässt. Mehr und mehr Eltern entscheiden sich stattdessen für eine alternative, unblutige und schmerzlose Zeremonie namens Brit Shalom, um ihre Söhne an ihrem achten Lebenstag in der Gemeinschaft willkommen zu heißen - und leben dennoch stolz und bewusst ihren jüdischen Glauben und vermitteln ihn ihren Kindern. Die Existenz des Judentums hängt sicherlich nicht mit dem Abschneiden der Vorhaut zusammen. Die jüdische Ärztin und Psychotherapeutin Jenny Goodman wird mit folgenden Worten zitiert: "Ich bin zuversichtlich, dass mein Volk so viele lebensbejahende, lebensfreudige und erkenntnisbringende Traditionen hat, dass unsere Identität und kulturelle Selbstachtung ohne Probleme überleben wird, wenn wir über die Beschneidung hinauswachsen, die ein grausames Relikt ist, das ich immer als eine Abweichung vom Herzen meiner Religion empfunden habe."[5]
Auf der Ebene der grundlegenden Werte des Judentums kann gegen Beschneidung argumentiert werden: Entspricht es dem Grundgebot der Liebe, wenn Babys beschnitten werden? Wer sein Kind liebt wird alles tun, um ihm Schmerzen zu ersparen. Entspricht es der Harmonie in der Familie, wenn ein Kind von den Eltern festgehalten wird, während sein Penis beschnitten wird – oder wird hier nicht das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind gestört?

(4)    Für den Islam wie für das Judentum könnte daher geltend gemacht werden, dass islamische wie jüdische Existenz nicht an der Genitalbeschneidung von Burschen festzumachen ist, sondern am Glauben an einen liebenden und barmherzigen Allah-Jahwe-Gott. Der Wiener Fundamentaltheologe Kurt Appel dürfte wohl übertreiben, wenn er meint, ein Verzicht auf Beschneidung käme „einer Verunmöglichung jüdischer und muslimischer Existenz“[6] gleich.

(5)    Die symbolische Bedeutung der Zirkumzision kann ebenso zur Diskussion gestellt werden. Sind im Hintergrund archaisch-sexuelle Vorstellungen?  Geht es um eine symbolisch-rituelle „Beschneidung der Sexualität“? Wieweit stimmen Argumente, dass das Entfernen der Vorhaut negative Auswirkungen auf die sexuelle Funktion und das sexuelle Lustempfinden hat?[7] Kann argumentiert werden, dass hier ein sexualfeindliches Ritual überlebt, das zwar harmlos ist im Vergleich zur feminalen Genitalverstümmelung, jedoch vom Zweck her eine ähnliche Funktion hat, nämliche die Einschränkung sexuellen Erlebens?[8] Medizinisches Faktum ist jedenfalls, dass die Vorhaut am Penis ein sehr empfindsames Organ ist, das die sexuelle Erregbarkeit und Penetration erleichtert.[9] Jüdische Gelehrte haben immer wieder den Zusammenhang zwischen der Einschränkung der Sexualität und der Beschneidung hergestellt. [10] Religionsgemeinschaften müssen jedenfalls gerade wegen sexualfeindlicher Phänomene in der Geschichte diesen Argumenten gegenüber offen sein und Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft beachten.

(6)    Religiöse Riten und Praktiken können sich auch ändern. Dass etwas jahrtausendelang praktiziert wurde ist nicht gleichbedeutend mit der Tatsache, dass es auch richtig ist. In dieser Hinsicht darf auch die Beschneidung hinterfragt werden. In allen großen Religionen gab es Traditionen, Riten und Bräuche, die aus heutiger Sicht niemand mehr rechtfertigen würde: So beispielsweise die Todesstrafe für Ehebruch oder für homosexuelle Handlungen im Judentum, Verstümmelungen für bestimmte Verbrechen im Islam, die Inquisition und Hexenverbrennungen im Katholizismus usw.

(7)    Argumente der Hygiene oder der Verhinderung und Einschränkung von Krankheiten[11] durch die Entfernung der Vorhaut sind bereits widerlegt worden. Sie dienen teils einer nachträglichen Legitimation.

(8)    Ist das Entfernen der Vorhaut wirklich ein „harmloser Eingriff“[12]? Wird damit nicht ein kleiner, sehr sensibler Teil des Körpers auf Dauer entfernt? Wird damit nicht sexuelle Empfindsamkeit unnötigerweise eingeschränkt.

(9)    Die Frage des Alters und der Mündigkeit ist ebenfalls in Betracht zu ziehen. Wann soll und darf die Beschneidung durchgeführt werden? Ein Beschneidungsverbot beträfe  Kinder und Jugendliche, nicht aber Erwachsene, die sich frei dafür entscheiden könnten.

(10)Es ist sicherlich nicht richtig, wenn jede Kritik an der Beschneidung von Unmündigen gleich mit dem Hinweis auf einen „geistigen Holocaust“ [13]verurteilt wird und in die antisemitische, antijüdische oder antiislamische Ecke gestellt wird. In der Kleinen Zeitung (27.7.2012) stellte Ariel Muzicant ein mögliches Verbot mit der Vernichtung der Juden gleich. Ein solches "wäre dem Versuch einer neuerlichen Schoah, einer Vernichtung des jüdischen Volkes, gleichzusetzen - nur diesmal mit geistigen Mitteln". Beschneidungskritik ist auch nicht auf einer Ebene zu sehen mit der Infragestellung der Kindertaufe,  da hier keine körperlichen Eingriffe stattfinden, was letztlich der entscheidende Grund für eine Beschneidungskritik darstellt.

Mit  diesen Anfragen möchte ich keinesfalls in das Lager jener eingereiht werden, die sich gegenwärtig in ihrer religionskritischen oder zumeist religionsfeindlichen Polemik gegen die Religionsgemeinschaften stellen, beispielsweise in Österreich die „Initiative gegen Kirchenprivilegien“. Ebenfalls abgrenzen möchte ich mich gegenüber den antisemitischen oder muslimfeindlichen Tendenzen, die sehr oft mit der Forderung nach einem Beschneidungsverbot verbunden sind. Im Gegenteil: Es sei nochmals betont, freie Ausübung jeder Religion ist ein Menschenrecht und staatliches Grundrecht und jegliche Einschränkung muss kritisch hinterfragt werden. Dies gilt insbesondere  gegenüber den religiösen Minderheiten in einem Land . Aufmerksame Sensibilität muss in Österreich gegenüber den Juden und Jüdinnen praktiziert werden. Ihre Religionsausübung ist aufgrund der österreichischen Geschichte in besonderer Weise zu achten! Die Beschneidungsdiskussion darf nicht dazu dienen, um Islamfeindlichkeit oder damit verbunden oft auch Ausländerfeindlichkeit auszuleben. Zugleich soll und muss auch religiöse Zirkumzision auf der Basis von Fakten und mit Blick auf die grundlegenden Rechte von Kindern hinterfragt werden können. Im Herzen jeder Religion steht im Zentrum die Liebe, damit vor allem der Schutz der Kleinen – und insofern das Wohl der Kinder. „Lasset die Kinder zu mir kommen ...“ (Mk 10,13-16), lautet eines der bekanntesten Worte des Jesus von Nazareth. Damit nahm er die Kinder vor den Erwachsenen in Schutz. Alles, was der freien Entfaltung der Kinder dient, was zu ihrem Schutz unternommen wird, was sie vor Schmerzen und Leid bewahrt, muss Maßstab für staatliches, religiös-soziales wie individuelles Verhalten sein.

Klaus Heidegger


[1] Auslöser der Diskussion war die Entscheidung des Kölner Landgerichtes Ende Juni 2012, dass die Beschneidung von unmündigen Kindern eine Straftat sei. Es folgte damit dem deutschen Recht, demnach es nicht erlaubt sei, ohne medizinische Indikation ein Kind zu verletzen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei höher zu bewerten als ein religiöser Brauch. Eine nicht medizinische indizierte Beschneidung diene nicht dem Wohle des Kindes. Eltern dürften daher dazu nicht die Zustimmung geben und Ärzte dürften eine Beschneidung nicht durchführen. Weiters würde durch Beschneidung die Religionsfreiheit eines Kindes letztlich eingeschränkt, da es sich nicht für oder gegen diese Religion entscheiden könne. Erst wenn Mündigkeit vorhanden sei, könne daher eine Beschneidung durchgeführt werden.
[2] Zit. in: DER STANDARD, 28. Juli 2012. Diese Äußerung geschah auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch, dem evangelischen Bischof Michael Bünker und dem Generalsekretär der Katholischen Bischofskonferenz Peter Schipka.
[3] Manche sprechen auch von traumatischen Folgeerscheinungen.
[4] So der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich Fuat Sanac.
[6] Zit. in: DER STANDARD, 28./29.7.2012.
[7] Vgl. dazu u.a.: http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/beschneidung-und-sexualitaet.html, abgerufen am 29.7.2012. „Beschneidung entfernt den empfindsamsten Teil des männlichen Penis. Die fünf sensitivsten Stellen des Penis befinden sich auf der Vorhaut. Die Übergangsregion von der Äußeren zur Inneren Vorhaut ist die empfindsamste Stelle des vollkommen intakten Penis, und ist sensitiver als die empfindlichste Stelle, die der beschnittene Penis noch besitzt."
[8] Als Faktum kann angeführt werden, dass in einigen Ländern  wie den USA, Großbritannien oder Neuseeland Beschneidung von Burschen praktiziert wurde als vorbeugende Maßnahme gegen Masturbation. Das Entfernen der Vorhaut wurde als Grund genannt, um Masturbation – die von vielen religiösen Fundamentalisten als verwerflich gewertet wird, sowohl im Christentum, Islam wie im Judentum – einzudämmen.
[9] So beispielsweise argumentiert Petra Schweiger, Gesundheitspsychologin und Klinische Psychologin, in: DER STANDARD, 26.7.2012.
[10] Moses Maimonides, der berühmte Jüdische Rabbi, Arzt und Philosoph des Mittelalters, stellt folgenden Zusammenhang zwischen Beschneidung und Sexualität her: „Was die Beschneidung anbelangt, ist meiner Meinung nach einer der Gründe dafür, der Wunsch eine Verringerung des Geschlechtsverkehres und eine Schwächung des fraglichen Organs zu bewirken, sodass seine Aktivität vermindert sei und das Organ sich in einem Zustand befinde, der so ruhig wie möglich ist. Es wurde angenommen, dass die Beschneidung einen angeborenen Makel vervollkommnet. Dies gab allen die Möglichkeit einen Einwand zu erheben und zu erklären: Wie können natürliche Dinge so fehlerhaft sein, dass sie einer Vervollkommnung von außen bedürfen, wo wir doch wissen, wie nützlich die Vorhaut für dieses Körperglied ist?  Tatsächlich wurde dieses Gebot nicht mit der Absicht aufgetragen einen angeborenen Makel zu vervollkommnen, sondern einen moralischen Makel.  Der körperliche Schmerz, der diesem Körperteil zugefügt wird, ist der wahre Zweck der Beschneidung. Keine der Körperfunktionen, die für das Überleben des Individuums notwendig sind, wird dadurch geschädigt, auch wird die Fortpflanzung nicht unmöglich gemacht aber ausschweifende  Begierde und Lust, die über das hinausgeht, was unbedingt gebraucht wird, werden verringert. Die Tatsache, dass die Beschneidung die Fähigkeit zur sexuellen Erregung schwächt und manchmal vielleicht das Vergnügen, ist unbestreitbar. Denn wenn dieses Glied bei der Geburt zum Bluten gebracht und seiner Bedeckung beraubt wurde, wird es zwangsläufig geschwächt. Die Weißen, möge ihrer Erinnerung gesegnet sein, haben ausdrücklich erklärt; Es ist schwer für eine Frau, die mit einem unbeschnittenen Mann geschlechtlichen Verkehr hatte, sich von diesem zu trennen. Meiner Meinung nach ist dies der stärkste Grund für die Beschneidung.“
[11] Kondome – gegen die sich immer wieder Vertreter der katholischen Kirche ausgesprochen hatten – sind jedenfalls eine effizientere HIV-Prophylaxe als Beschneidung.
[12] So die Vertreter der Religionsgemeinschaften in Österreich in einer gemeinsamen Presseerklärung.
[13] So der ehemalige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Österreich, Ariel Muzicant, zit. in: DIE KRONE, 29.7.2012.

Mittwoch, 25. Juli 2012

Olympia 2012 im Kriegszustand


Olympia 2012 im Kriegszustand
Die Spiele in Olympia im antiken Griechenland waren zu Ehren des Zeus, des Gottes des Kampfes. Die Olympischen Sommerspiele 2012 in London haben mit Krieg zu tun. Augenscheinlich sind die Bilder: 17.200  Soldaten der britischen Streitkräfte wurden zum Schutz  abkommandiert. Vor der Tower Bridge ist eines der größten Kriegsschiffe in der Themse vor Anker gegangen. Die Typhoon-Kampfjets und Militärhubschrauber der Royal Air Force überwachen den Luftraum; auf Hausdächern wurden rund um die olympischen Stätten Boden-Luft-Raketen in Bereitschaft gebracht. Die neuesten Kriegsgeräte – wie die Drohnen – sollen zum Einsatz kommen. Das als „friedlichste Spiel der Welt“ bezeichnete Megaevent hat  eine militärische Tarnfarbe bekommen. Die 30. Olympischen Sommerspiele sind zu einem Militäreinsatz geworden. Die Innere Sicherheit wird dem Militär anvertraut, die demokratiepolitische Trennung von Militär und Innerer Sicherheit de facto aufgehoben. Sport, der in den Bevölkerungen dieser Welt die größten Sympathien besitzt, wird zur Rechtfertigung für den Ausnahmezustand.
Der britische Staat ist im Krieg: Noch immer sind 9.400 britische Soldaten im Kampfeinsatz in Afghanistan. Dies ist einer der Verwände für gewalttätig-fundamentalistische Terrorgruppen, im Namen des Islams Anschläge anzudrohen. Was wäre, wenn sich Großbritannien nicht immer wieder in den vergangenen zwei Jahrzehnten, Seite an Seite mit den USA, Frankreich und den Golfstaaten, an Kriegen beteiligt hätte:  in den beiden Golfkriegen, im Krieg gegen Gaddafi und seit 11 Jahren im Krieg gegen die Taliban in Afghanistan?  Großbritannien wäre weniger ein terroristisches Angriffsziel.  Einige der von der Front in Afghanistan heimgekehrten Soldaten werden nun sofort wieder zum Einsatz im Heimatland abkommandiert.
Friedenspolitische und pazifistische Menschen werden sich schwer tun, selbst wenn sie sportbegeistert sind, wie der Schreiber dieser Zeilen, sich an Olympia 2012 zu freuen. Zu sehr sind diese Spiele verbunden mit einer gigantischen Rechtfertigung für den militärisch-industriellen Komplex; unverantwortlich groß ist auch der ökologische Fußabdruck. Olympia bedeutet insofern auch Krieg gegen die Natur. Angesichts des kollabierenden Weltklimas, das diesen Sommer in den zahlreichen wetterbedingten Katastrophen spürbar wird, angesichts des Hungerelends in Afrika und der Flüchtlingsströme, angesichts der enormen Ausgaben für Rüstung und Militär, wäre eine andere Politik gefordert.
Der beste Schutz vor Terroranschlägen würde darin liegen, auf diese Art von sportlicher Gigantomanie zu verzichten. Dann bräuchte es keinen Militäraufmarsch, um die Soft Targets von Olympioniken zu beschützen. Die 11,3 Milliarden, die allein der britische Staat in die Spiele steckte, fehlen für öffentliche Ausgaben im Sozial- und Bildungsbereich. Angesichts von Wohnungsarmut ist es ein Hohn, wenn gigantische Sportanlagen nur für zweiwöchige Spiele auf- und abgebaut werden. Doch ohne Olympischen Spiele würden die weltweit größten Konzerne weniger Aufträge bekommen, würden die Gewinne der Superreichen nicht noch mehr steigen und  würde der militärisch-industrielle Komplex weniger Rechtfertigungsansprüche stellen können. Olympia 2012 – Cui bono?
Dr. Klaus Heidegger, Kommission für Pazifismus und Antimilitarismus von Pax Christi Österreich

Freitag, 20. Juli 2012

Parkpickerl und das Auto als Goldenes Kalb


Die Parkpickerldiskussion und das Auto als Goldenes Kalb
Täglich neu hetzt die Kronenzeitung gegen die Grünen. Die Diskussion um das Parkpickerl  in Wien ist der Anlass. Die Grünen würden mit ihrer Forderung nach einer Ausweitung der Parkgebühren den klaren Mehrheitswillen ignorieren und  sich gegen das Volk = Kronenzeitung stellen. Angeblich gärt die Volkswut. Hinter dem vermeintlichen Volkswillen und dem Krone-Populismus steht die Verteidigung des Goldenen Kalbes  der Gegenwart, dem täglich neu unzählige Opfer gebracht werden: Geopfert wird die Gesundheit der Menschen, die betroffen sind vom permanenten Lärm entlang der Straßen, den Emissionen, die die Lungen schädigen und zum Klimakollaps führen, den Unfallopfern, die das Gesundheitssystem belasten, bis zu den Kriegen um die begrenzte Ressource Erdöl. Wer das massenhafte Autofahren eindämmen will, das insbesondere das Leben in den Städten längst schon unerträglich gemacht hat, wird verächtlich gemacht. ÖVP und FPÖ bieten sich einmal mehr als Autolobby-Parteien an und die SPÖ hat nur begrenzt Mut, sich dem mächtigen Konglomerat von ÖAMTC, ARBÖ, Ölindustrie, Straßenbaufirmen und KFZ-Industrien entgegen zu setzen und will potenzielle Wähler nicht durch eine autokritische Politik verschrecken.
Klaus Heidegger

Freitag, 13. Juli 2012

Militärintervention in Mali: der Colt sitzt locker


Der Colt sitzt locker: Internationale Militärintervention in Mali?
Fundamentalistische und gewalttätige Islamisten zerstören in Mali uralte Kulturgüter, die unter dem Schutz der UNESCO stehen. Der Norden Malis ist unter Kontrolle der neuen islamistischen Herrscher. Wer nicht gehorcht, wird massakriert. Die Situation erinnert an Afghanistan oder Somalia. Fast eine halbe Million Menschen sind auf der Flucht. Eine humanitäre Tragödie bahnt sich an. Die Regierung von Mali scheint ohnmächtig zu sein. Der in den USA militärisch ausgebildete Staatschef von Mali kam erst vor ein paar Monaten durch einen Militärputsch an die Macht. Und wieder überlegen nun US-Militärs den Einsatz ihrer Drohnen und drängt Frankreich auf eine militärische Intervention, noch lange bevor es einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates gibt. Implizit steht im Hintergrund: Responsibility to Protect (R2P) ohne UN-Mandatierung. Die Welt scheint sich daran gewöhnt zu haben. Ein militärisches R2P dürfte es aber laut UN-Vorgaben nur dann geben, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft wären, wenn es Aussicht auf Erfolg gäbe, wenn die zu erwartenden Verluste und Zerstörungen nicht unverhältnismäßig wären und wenn es ein entsprechendes Mandat seitens der UNO gäbe. Keines der Kriterien ist jedoch derweilen erfüllt worden. Es wäre Zeit, wenn die internationale Gemeinschaft mit allem Nachdruck zunächst die vielfältigen Methoden der nichtmilitärischen Konfliktintervention erwägen und ausführen würde, bevor auf den Einsatz der militärischen Mittel zurückgegriffen wird. In diesem Sinne kann die UN-Sicherheitsratsresolution 2056 (2012) interpretiert werden, die keine Mandatierung für eine Militärintervention vorsieht, sondern zu einer politischen Lösung drängt. Eine solche könnte beispielsweise eine Teilautonomie im Norden Malis sein, bei der die territoriale Integrität des Landes erhalten bliebe.
Militärinterventionen sollten – wenn überhaupt – stets an letzter Stelle stehen. Die vergangenen Jahrzehnte militärischer Interventionen – Irak, Afghanistan, Somalia, Libyen – haben gezeigt, dass mit militärischer Einmischung von außen kein Staat und kein Frieden zu machen sind, dass jedoch damit stets unendlich viel menschliches Leid, Zerstörung und Vergeudung von Ressourcen verknüpft sind. Frankreich ist aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit und seiner Interessen in der Region zu militärischer Zurückhaltung verpflichtet. Eine französisch-amerikanisch dominierte Intervention würde den islamistischen Kräften und den Tuareg-Rebellen nur neuen Vorwand für ihre terroristischen Aktivitäten geben.
Auch Libyen ist kein Beispiel für eine gelungene Intervention von außen angesichts von 30.000 Opfer des Kampfes um die Macht in Libyen, einem bis heute tief gespaltenen Land, das stets am Rande eines neuerlichen Bürgerkriegs steht, und einer immer noch zerstörten Infrastruktur. Die Tausenden traumatisierten Tuareg-Kämpfer, die auf Seiten Gaddafis gekämpft hatten und nach dem Machtwechsel aus Libyen in den Norden Malis geflohen sind, führen nun ihren Krieg in einem anderen Land weiter. Gewalt gebiert neue Gewalt. Aus der Gewalt führt nur der Weg der Gewaltfreiheit.
Dr. Klaus Heidegger, Kommission für Pazifismus und Antimilitarismus von Pax Christi Österreich